Reliquien-Verehrung

Vor drei Jahren wurde das eiserne Tor des ehemaligen KL Dachau, mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“, von unbekannten Dieben gestohlen; im vergangenen Jahr tauchte es in der norwegischen Stadt Bergen auf, und dieser Tage wurde die geschändete Reliquie im Triumphzug nach Dachau zurückgebracht. Glücklich und gesegnet, wer dieser heiligen Handlung teilhaftig sein durfte. Als die Männer der Speditionsfirma den sakralen Gegenstand „wie zerbrechliches Glas“ auf ein Gestell legten, „herrschte andächtige Stille“.1 Eine ergreifende Predigt hielt der bayrische Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle. Er geißelte den ruchlosen Diebstahl als eine „Aggression gegen den Ort des Erinnerns“, wobei er das Geheimnis des Glaubens, wie sich Nachgeborene denn an etwas erinnern sollen, das sie nie erlebt, leider nicht lüften wollte. Immerhin konnte er die frohe Botschaft verkünden, daß mit der wundertätigen Rückkehr des Tores, Gottlob, „die Heilung eines Angriffs auf die Integrität dieser Gedenkstätte“ eingeleitet sei. Außerdem wurden die Gläubigen darüber unterrichtet, daß das heilige Stück künftig in einer „klimatisierten und alarmgesicherten Vitrine“1a aufbewahrt werde (analog zu dem Tuche Christi in Trier), auf daß es für fernste Geschlechter an diesem sakralen Ort in säkula säkulorum aufbewahrt werde. Ja, die fast vergessene Reliquien-Verehrung erlebt eine höchst erfreuliche Renaissance!

Zwar ist für Heiden nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet das verrostete Tor eines fast vor einem Jahrhundert aufgelösten Konzentrationslager wie ein Heiligtum behandelt wird, aber warum sollte es nicht? Wir haben schließlich Religionsfreiheit. Freilich, die Engländer, die Erfinder der Konzentrationslager, sind da weniger fromm; keine einzige ihrer historischen Vernichtungsstätten haben sie der Nachwelt für Wallfahrten konserviert; ebensowenig die Amerikaner, Franzosen oder Russen, die sogar nach dem Kriege Millionen von Deutschen auf den Rheinwiesen und im Gulag ermordeten. Allerdings bestrafen sie sich mit ihrer Nachlässigkeit selber schwer, denn mit ihrem fehlenden Masochismus bringen sie sich um den Genuß, von der Nachwelt beschimpft, in den Hintern getreten und finanziell ausgeplündert zu werden.

Dieses warnenden Beispiels eingedenk, eröffnet der mit missionarischem Eifer gesegnete Spaenle Wallfahrtstätten am laufenden Band, so erst vor einem Jahr im Nürnberger Land in den Orten Hersbruck und Happurg, die „an die Zwangsarbeiter-Einsätze während der Nazi-Zeit“ und „dauerhaft an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern“ sollen; damit komme Bayern „seiner historischen Verantwortung nach“.2 Nun sind Zwangsarbeiter-Einsätze an sich nichts besonderes, denn solange die Menschheit besteht, werden Kriegsgefangene für Arbeiten eingesetzt, wobei Deutschland seine Zwangsarbeiter gewiß nicht inhumaner behandelte, als die „Dawai! Dawai!“- und „Hurry up!“-Folterknechte der Feindmächte deutsche Zwangsarbeiter behandelten, und der geschichtlich Wissende wird sich daher verdutzt fragen, warum der fromme bayrische Kultusminister ausgerechnet die in deutscher Obhut gestandenen Zwangsarbeiter posthum zu Heiligen, mit Anrecht auf eine Wallfahrtstätte, erklärte. Die Antwort ist die: Vergessen Sie alles Entlastende, was die noch nicht verstorbenen Zeitgenossen persönlich erlebt oder gesehen, und was akribisch recherchierende Historiker jemals über die, Deutsche betreffende, Geschichte gelehrt haben. Denn je weiter wir uns von 1945 entfernen, desto frischer schießen die wahren Geschichts-„Experten“ a la Spaenle wie Pilze aus dem Boden, um uns die ihnen vom Heiligen Geist selber verkündete Heilslehre zu vermitteln, daß nämlich die „dunkelsten Jahre“ unserer Geschichte nicht nur viel dunkler als dunkel waren, sondern auch bis in prähistorische Vergangenheit reichen. Wäre man damals schon des Lesens und Schreibens kundig gewesen, so wüßten wir heute, was die Deutschen z. B. den Neandertalern oder gar dem Ramapithecus angetan haben. So können wir unsere Untaten leider nur etwa 2000 Jahre zurückverfolgen und feststellen, daß nicht die Juden, sondern wir Deutsche Christus ans Kreuz geschlagen haben (Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu verdrängen, sondern wir müssen, mit den Worten des Kultusministers ausgedrückt, unserer „historischen Verantwortung“ nachkommen): „In der Katharinenkirche des polnisch besetzten deutschen Danzig wurden 1987 Gemälde ausgestellt, die zeigen, wie deutsche Soldaten Jesus Christus ans Kreuz nageln und bis aufs Blut quälen“.3 Und bekanntlich können die von uns 1939 aus reiner Bosheit überfallenen Polen nicht lügen, demnach können die Lügner nur die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sein. Die beiden großen christlichen Kirchen haben das erkannt, eine längst überfällige Korrektur der Bibel vorgenommen und somit gleichzeitig ihren zweitausend Jahre währenden häßlichen Antisemitismus beendet.

Aber nicht nur Christus, sondern auch der Hl. Kastulus wurde von uns Deutschen gequält, genau genommen vom Führer und Reichskanzler Adolf Hitler, dem Reichspropagandaleiter Dr. Joseph Goebbels und dem Reichsmarschall Hermann Göring. Bisher hatte man nämlich irrtümlicherweise angenommen, der im dritten Jahrhundert nach der Zeitrechnung im alten Rom lebende Märtyrer Kastulus sei von Schergen des Imperators zu Tode gefoltert worden; jetzt kennt man die Wahrheit, verewigt in der Verglasung einer Seitenkapelle der katholischen Kirche St. Martin in der niederbayrischen Hauptstadt Landshut. Meine Anfrage an die Pfarrei St. Martin, ob Hitler, Goebbels und Göring tatsächlich die Folterknechte des armen Kastulus gewesen seien, beantwortete die Pfarrsekretärin (eine weitere Expertin!) folgendermaßen: „Der Münchner Künstler Max Lacher hat 1945 bei der Darstellung des Martyriums des 2. Kirchenpatrones St. Kastulus den Folterknechten die Gesichter von A. Hitler, J. Göppels und H. Göring gegeben.“ In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Gottes Mühlen mahlen eben langsam.

Zurück zu unserem nach Dachau zurückgekehrten Tor. Die Hofpresse nahm dieses Ereignis wieder einmal zum Anlaß, die von den uns bereits bekannten „Experten“ ermittelten Opfer des KL Dachau zu präsentieren; von 41500 ist die Rede, obwohl es tatsächlich ca. 30.000 waren3a (10.000 weniger, als in einer einzigen Nacht in Hamburg dem alliierten Luftterror zum Opfer fielen). Auch 30.000 Opfer sind noch immer eine hohe Zahl, die meisten davon zustandegekommen gegen Ende des Krieges, als die Infrastruktur und Versorgung zusammengebrochen war. Und wie erklärt sich die stete wundersame Opfervermehrung, wenn sie denn Deutschen anzulasten seien? Es handelt sich um eine Glaubensfrage. Alle in Reliquienschreinen aufbewahrten Holzsplitter, die beanspruchen vom Kreuz Christi zu stammen, würden, zusammengerechnet, mehrere Kreuze ausmachen, und mit allen ausgestellten Nägeln, mit denen angeblich Christus ans Kreuz geschlagen wurde, könnte man wahrscheinlich eine Schrotthandlung betreiben. Aber kein einziger Gläubiger will auf seinen Nagel oder Holzsplitter verzichten.

Schließen wir den Kreis mit Kultusminister Spaenle. Er ist nicht weniger, als beispielsweise die Merkel oder Martin Schulz, für die Heiligenschein-Anwartschaft prädestiniert, und die Tatsache, daß vor ein paar Jahren sein kultureller Hang zur Vetternwirtschaft/Raffgier ans Tageslicht gekommen ist, ändert da rein gar nichts: Er hatte seine Ehefrau Bürodienste leisten lassen, wofür der Steuerzahler ca. 600.000 Euro berappen mußte. Aber da er seinen „politischen Fehler“4 einsah, ist doch alles in Butter. Solange der bayerische Kultusminister fromm bleibt und als Schüler des Berliner Gymnasiums, Tucholsky-Str. 9, weiterhin brav die Lektionen im Fach Geschichte lernt, werden ihm seine Verfehlungen immer verziehen sein, und er und seine Nachfolger werden, solange die BRD besteht, noch viele Reliquien-Verehrungen zelebrieren.

1Passauer Neue Presse, 23. 02. 2017

1a SPIEGEL-Online, 22. 02. 2017

2 Passauer Neue Presse, 26. 01. 2016

3FZ-Verlag, ISBN 3-924 309-18-3

3a Der Große Wendig, Bd. 2, S. 113

4Bild-Zeitung, 13. 6. 2014

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